48
Jahre alt ! Und am Ende behindert?
48
Jahre alt ! Behindert und am Ende?
Von
Winfried Kerkhoff
Ein
Kurzbericht
Es
ist der 24. August 1984.
Im
Sekretariat eines Schulgebäudes in der Stadt Münster bricht die Sekretärin
zusammen. Sie ist gut 48 Jahre alt und heißt Erika Kerkhoff. Der Ehemann und
der aus Griechenland stammende Schulleiter, die mit ihr ein Schriftstück - ein
in deutscher Sprache abgefasster Elternberater für ausländische
Familien mit behinderten Kindern -
besprachen, bringen die Stöhnende auf eine Couch in das Elternsprechzimmer. Der
Ehemann befürchtet einen Schlaganfall und ruft dem Lehrerkollegium, das ihm gut
aus der früheren eigenen schulischen Arbeit bekannt ist, zu, sofort einen Arzt
zu besorgen.
Nachdem
der Zustand seiner Frau sich zusehends verschlechtert und sie klagt: „Mir ist
so schlecht!“, beschließen Ehemann und Schulleiter, die Ankunft eines Arztes nicht
abzuwarten, sondern selbst und sofort zu handeln.
Der
Schulleiter holt seinen Wagen und fährt ihn vor die Haupteinfahrt des Gebäudes.
Der Ehemann bringt seine Frau auf den Armen zu dem vorgefahrenen Wagen. Beiden
gelingt es in Kürze, die immer noch schwer und häufig stöhnende Frau auf den
Beifahrersitz des Wagens zu bringen. Man hört noch den Ruf: „Zum
Franziskushospital.“ Türengeklapper - und das Auto saust davon.
Als
Stylianus L., der Schulleiter, die Einfahrt zum Krankenhaus hochfährt, hoffen
beide, dass die Kollegen in der Schule per Telefon den Bereitschaftsdienst
erreichen konnten.
Der
Ehemann stürzt durch die Tür des Krankenhauses und meldet sich beim Pförtner,
da kommt auch schon eine fahrbare Trage und zwei Krankenpfleger holen die Frau,
die nun fast verstummt ist, aus dem Wagen, legen sie auf den fahrbaren
Untersatz.
„Sind
sie der Ehemann?“ lautet die Frage, der bejaht. „Kommen sie!“ ist die nächste
Aufforderung. Und schon ist die kleine Prozession in den Gängen des Hospitals
verschwunden.
Zurück
bleibt Stylianus L. der Schulleiter, der fuhr. Langsam geht er zum Wagen, schaut
ratlos empor zu den vielen Fenstern des Hauses, hinter denen nun die Diagnose
seiner Sekretärin vorgenommen wird. Er steigt ein und schlägt den Weg zur
Schule ein, um den Kollegen zu berichten.
Der
Ehemann folgt der Krankenkarawane, die sofort in einem Zimmer des zweiten Stocks
verschwindet. Der Ehemann muss zurückbleiben, ohne dass einer der Ärzte eine
kleinste Information von ihm haben wollte. Er empfindet es sehr bedrückend
ausgeschlossen zu sein, abgesehen davon, dass er bereits für die Diagnose hätte
wertvolle Hinweise geben können.
Die
knappe halbe Stunde vor dem Untersuchungszimmer wird zur Ewigkeit. Endlich
erscheint ein Jemand in Weiß und fragt. Diesem scheint es unmöglich zu sein,
in einen derartigen Krankheitszustand geraten zu sein, ohne geraucht oder/und
getrunken zuhaben. Weitere Informationen, die der Ehemann anbringen will, werden
kaum zur Kenntnis genommen, ist der Eindruck des Ehemannes. Das ärztliche
Anamneseschema steht im Vordergrund.
Die
Diagnose, die im Franziskushospital gestellt wurde und dann in der
Raphaelsklinik unter Computertomographie bestätigt und präzisiert wird,
lautete Schlaganfall, Massenblutung im Gehirn. Am selben Tag wird Erika Kerkhoff
in ein drittes Krankenhaus eingeliefert. Das Clemenshospital hat einen bekannten
Gehirnspezialisten. Die gesamte Zeit über ist der Ehemann bei seiner Frau.
Die
drei Kinder - 21, 23, 24 Jahre - der Patientin, die auf die Schreckensnachricht
hin sofort herbeigeeilt sind, werden zusammen mit dem Vater vom Chefarzt über
den kritischen Zustand der Mutter informiert. Eine Operation wird angekündigt.
Der Zeitpunkt noch nicht festgelegt. Auf jeden Fall bestehen sehr geringe Überlebenschancen.
Man spricht von 5%. Alle wissen, die Gefahr
ist übergroß, die Mutter zu verlieren.
Die
Operation am nächsten Tag gelingt, aber am übernächsten Tag vermuten die Ärzte,
dass die Patientin hirntot ist. Der Schreck ist groß. Alle Hoffnung scheint
zunichte. Aber eine schwache Hirntätigkeit wird festgestellt. Neue Hoffnung.
Schon naht das nächste Unheil. Mit einer Lungenentzündung wird die Patientin
von der hirnchirurgischen Intensivstation auf die innere verlegt. Hier lernt die
Patientin in den nächsten Tagen selbst atmen. Die Lungenentzündung klingt ab.
Da schwillt das linke Bein an - Thrombose. Inzwischen wacht die Patientin aus
dem tiefen Koma auf, aber bleibt komatös, fällt auch immer wieder zurück ins
Koma. Kaum von der Thrombose genesen, stellen sich Atemprobleme ein. Es wird
eine Stenose (Verengung) in der Luftröhre diagnostiziert. Folge eines Fehlers bei der künstlichen
Beatmung. Es kommt daraufhin zur Cheyne-Stokes’ Atmung (periodisches Atmung,
mit zunehmend tiefen, angestrengten Atemzügen, schlechtes Vorzeichen). Man befürchtet das Schlimmste
und rät zu einer Tracheotomie, damit das Atmen erleichtert wird.
Zur
genaueren Diagnostik wird die Patientin in die HNO-Klinik gefahren und den
dortigen Fachärzten vorgeführt. Der Ehemann, selbst Univ.-Professor mit Fach
Behindertenpädagogik, wird, obwohl er seine Frau begleitet, von den
HNO-Kollegen zu nichts befragt, ja völlig übergangen. Am Abend erfährt der
Mann der Patientin vom Chefarzt der Inneren Intensivstation ein vernichtendes
Urteil. Völlig entsetzt und mit deutlicher Distanzierung von seinen
Arzt-Kollegen wiederholt der Chefarzt, selber Professor für Inneres, die Worte
der HNO-Kollegen der Uni-Klinik: „Patienten in dem Zustand operiert man nicht mehr.“ Das
ängstlich-unruhige,
teils nicht fixierende Umherschauen der Patientin in dieser neuen Situation
wurde von den Spezialisten vollkommen fehlgedeutet. Man muss sich fragen, wieso
entscheiden HNO-Ärzte über Leben und Tod? Man kann hier nur sagen: Schuster
bleib bei deinem Leisten!
Da
der Chefarzt der inneren Intensivstation, auf der Erika liegt, die Fortschritte der Patientin aber als
offensichtlich beurteilt, schlägt er vor, umgehend und im eigenen Haus, dem
Clemenshospital, zu operieren. Der erfahrene HNO-Oberarzt des Hauses soll die Operation
durchführen. Papiere dafür sind zu unterschreiben.
Erikas
Mann kriegt sich fast nicht ein, als er alle die eventuellen Fehlschläge, die
bei dieser Operation auftreten können, liest. Er unterschreibt dennoch, denn
ohne Operation ist seine Frau dem Tod in Kürze ausgesetzt. Am nächsten Morgen
wird die Tracheotomie durchgeführt. Die Operation glückt. Später erst erfährt
der Ehemann, dass seine Frau aus der Narkose kaum zu wecken war. Ja, dass es
erheblicher Anstrengungen bedurfte, sie ins Leben zurückzurufen. Aber von
diesem Zeitpunkt an kann seine Frau erheblich besser atmen.
An
den Adventssonntagen singt die Familie bei der Mutter auf der Intensivstation, und Weihnachten wird die
Krippe, in der ersten Zeit der Familie entstanden, auf dem Fensterbrett
aufgebaut. Es dürfen sogar die Kerzen des
Lattenweihnachtsbaumes, ein Lieblingsgegenstand der Patientin,
angezündet werden. Mit dem Kassettengerät wird mittels angeschlossener
Lautsprecher die ganze Intensivstation mit leiser Weihnachtsmusik versorgt. Ein
glückhaftes Weihnachtsfest trotz allem. Mit dem traurigen Grundton, dass es
wohl das letzte sein wird, an dem alle zusammen waren.
Tage
der Hoffnung kommen. Erika kann die Schelle bedienen und schellt die Schwestern
herbei, sie nimmt feste Nahrung zu sich. Der Ehemann kommt mittags zum Füttern.
Neujahr 1985 ist vorüber Die Ärzte äußern Gedanken der Verlegung aus der
Intensivabteilung auf die „normale“ Station.
Doch
dann wird der Zustand der Patientin im Januar plötzlich wechselhaft, sogar eher
kritisch. Die Palette möglicher Krankheiten ist groß und ist von der Patientin
noch nicht ausgekostet. Virologische und bakteriologische Erkrankungen tauchen
nun immer wieder auf. Und eines Abends setzt die Nierentätigkeit aus. Das
Lebensende der Patientin ist in unmittelbare Nähe gerückt, wenn keine Änderung
eintritt.
Der
Vater telefoniert wieder die Kinder herbei, um von der Mutter Abschied nehmen zu
können. Die Mutter aber liegt nichts ahnend lächelnd im Bett, selig, Mann und
Kinder bei sich zu haben und sich von ihnen streicheln zu lassen. Doch das
Schicksal bewahrt die Familie vor diesem Verlust. Um 5 Uhr morgens des nächsten
Tages ist die Gefahr des Nierenversagens vorüber.
Was
hat die Familie auch an Energie und Zeit in die Genesung der Mutter bislang
investiert! Besonders Ehemann und Tochter. Täglich bis zu drei Besuchen, oft
bis nachts zwei Uhr auf der Station, bis die täglichen Krisen überstanden
waren. Oftmals war der Ehemann der letzte, der das Krankenhaus verließ. Der Pförtner
wartete förmlich auf ihn. Der ging doch immer zuletzt, wenn der Morgen im
Anmarsch war! Und die Tochter wartete in Eis und Schnee in diesem harten Winter
auf den Bus, um nach dem Mittagessen zur Mutter nach Münster zu fahren. Die
Wochenendtage waren oft alle im Einsatz.
Die
Probleme bakteriologischen bzw. virologischen Befalls aber bleiben weiterhin
auch nach dem glücklich überstandenen Nierenversagen. Es setzt Fieber ein, das
zunächst als Folge einer Ansteckung erklärt wird. Folgen eines sehr langen
Krankenhausaufenthaltes: Hospitalismusfolgen. Doch die wiederholten
Untersuchungen geben dafür keinen Hinweis. Kein medizinisches Mittel wirkt
mehr. Das Fieber steigt. Der Zustand der Patientin wird schlechter, der komatöse
Zustand deutlicher und tiefer. Auf der Station spricht man von zerebralem
Fieber. Die Ärzte sind ratlos. Das bekommt der Ehemann von dem Pflegeteam
gesteckt. Darüber hinaus den gut gemeinten Wink: „Holen sie Ihre Frau hier
raus!“
Ein
Gespräch mit dem Chefarzt im Krankenhaus bestätigt, dass die Überlebenschancen
von Erika Kerkhoff gleich Null sind. Auf einen genauen Zeitpunkt des Lebensendes
will man sich nicht festlegen. Die Patientin kann in acht Tagen sterben, aber
auch erst in Wochen. Eine Zeitgrenze von höchstens 7 Wochen wird genannt. Der
Ehemann teilt dem Chefarzt mit, dass er in diesem Fall
seine Frau nach Hause holen möchte. Dort könne sie in Ruhe sterben. Der
Chefarzt gibt seine Zustimmung, macht sogar Mut zu diesem Schritt, was in dieser
Situation wie ein tröstendes Wort wirkt: „Sie werden es schaffen!“
Der
Ehemann bespricht die Situation mit den Kindern. Alle sind dafür, dass Mutter
heimkommt zum Sterben. Das beruhigt und freut ihn sehr. Dennoch hätte er auch
ohne Zuspruch der Kinder seine Frau nach Hause geholt. Beide hatten sie sich
einmal einander das Versprechen gegeben, den Partner zu sich nach Hause zu
holen, wenn die letzte Stunde kommen würde.
In
einem Gespräch, in dem der Ehemann mitteilt, dass er seine Frau nach Hause
holen wolle, und um Unterstützung bittet, erklärt der Hausarzt: „Sie sind
verrückt. Das können Sie nicht schaffen.“ Aber er müsse ja wohl den Auftrag
annehmen.
Am
4.April – es ist das Jahr 1985 - wird die Patientin mit Fieber von 39,8° nach
Hause transportiert. Es ist kurz vor Ostern. Das Eheschlafzimmer wurde zuvor zum
Krankenzimmer umfunktioniert. Die Arbeiterwohlfahrt Münster hatte zusammen mit dem
Freund der Familie Ewald Z. die nötigen Vorbereitungen getroffen. Hilfreich
auch, dass diese Menschen da sind, als die Mutter nach Hause kommt.
Die
nächsten Tage und Wochen nehmen einen dramatischen Verlauf. Auf der einen Seite
wird Abschied genommen. Der Ehemann und die Kinder wissen, alles geschieht zum
letzten Mal gemeinsam, das traditionelle Eierfärben in der Familie am
Karfreitag, die Ostervorbereitungen, das Osterfest in der Familie. Auf der
anderen Seite kämpft man verbissen um das Leben der Mutter.
Mitten n dieser Krisenzeit
kündigt der genannte Hausarzt dem Ehemann an einem Morgen um 11 Uhr ohne Vorwarnung und ohne Bestellung eines Nachfolgers
seine Hilfe auf, auch ohne sich von seiner Patientin zu verabschieden.
Einen wunderbaren Ersatz, einen von da ab treu sorgenden Arzt, Dr. Bührig, bekommt
Erika Kerkhoff erst einen Tag später. Doch dieser halbe Tag und diese eine
Nacht hat den Ehemann in den Sorgen um seine Ehefrau und in der Einsamkeit ohne
ärztlichen Rat schwer zu schaffen gemacht.
Es gelingt der
Familie, wie schon im Krankenhaus, auch diesmal die Mutter dem Tode abzutrotzen
und in ganz kleinen Schritten zur Partizipation am Leben zu führen.
Eine
besondere Rolle spielten dabei Wadenwickeln, die - so unglaublich es klingen mag
- ein ganzes Vierteljahr Tag und Nacht nass und kühl gehalten wurden, um das
Fieber abklingen zulassen. Hatte die Patientin durch die Hilfe der Angehörigen,
z. B. im Krankenhaus Schlucken gelernt, so zu Hause den weniger geschädigten
rechte Arm – obwohl sie Linkshänder war – im Liegen zum Mund zu führen,
den Kopf zu halten, im Rollstuhl zu sitzen, mit Stimme zu sprechen u.a.m.
Auf
dem Weg „Zurück ins Leben“ oder genauer „Zu einem neuen Leben“ gewannen
verschiedene Personen, Dinge, Ereignisse und Tätigkeiten nachhaltigen Einfluss
auf die Entwicklung der Patientin.
Ein
umfassender Bericht über „Krankheitsverlauf, Therapie und Förderung“ der
ersten Jahre nach dem „Schlaganfall“ (Kröger 1993, leider vergriffen) liegt
vor. Teile dieses Textes werden hier später noch herangezogen werden.
Auch
von einigen nachhaltigen Begebenheiten, besonders auch der späteren Jahre, wird
hier an dieser oder anderer Stelle der Homepage noch ergänzend erzählt. Bei
allem spielte eine für unsere Familie selbst gestaltete
Krippe
eine wichtige
Rolle. Später, nach Jahren, als Erikas Depressionen wieder zunehmen, geht der
Ehemann mit seiner immer noch schwer behinderten Frau auf
Reisen,
mit einem Wohnmobil, in dem sie liegend befördert wird. Auch davon –
den Schwierigkeiten und den glücklichen Stunden - wird hier und auf anderen Seiten die
Rede sein.-
16
Jahre wurden meiner Frau und mir vom Schicksal nach dem Schlaganfall
geschenkt. Meine Frau blieb die ganze Zeit hindurch bettlägerig, konnte nur
2mal am Tag für 2 Stunden in den Rollstuhl, an guten Tagen und wenn sie sehr
motiviert war, hielt sie auch drei Stunden durch. Sie musste die ganze Zeit
hindurch gefüttert werden, war inkontinent und musste rund um die Uhr versorgt
und gepflegt werden. Auch des Nachts.
Wenn wir im Auto fortfahren wollten, mussten wir eine
knappe Stunde vorher mit den Vorbereitungen, dem Anziehen usw., anfangen, damit
wir zeitig genug ins Auto kamen.
In den ersten Jahren stand ich in der Nacht bis zu 30mal auf. Immer
wieder fiel ihr Kopf vom Kissen, hatte sie in den Beinen einen Spasmus, hustete
sie und musste neu gelagert werden, oder die Kanüle (Tracheotomie) war verstopft,
so dass sie
nicht genügend Luft bekam.
Immer
wieder machten Fachleute Vorschläge zur Verbesserung der Lagerung bei Tage und
Nacht. Sicherlich half eine gute Lagerung mit entsprechenden Kissen die Lage zu
stabilisieren. Doch einmal ein leichtes Husten und Strecken der Beine und die ganze
Lagerung war hin, da der Körper verrutscht war und alle Kissen verschoben
waren.
Später,
das heißt die letzten 4-5 Jahre brauchte ich in der Regel nur noch mindestens 3mal aufzustehen,
um Erika die notwendige Hilfe zu geben. Aber oft waren es auch viel e Male mehr.
Trotz
allem waren es gute Jahre, die Erika bei uns bleiben konnte. Auch sie sah das
so. Fort von mir wollte sie nicht. "Ich will immer bei Dir bleiben,"
sagte sie oft. Trotzdem musste sie gehen.
Mittwoch,
den 22.3.2000, bekam sie unerwartet einen Schwächeanfall. Am Freitagmorgen,
24.3.2000, um 5 Uhr verstarb sie an Herzversagen.
Nach
dem Schlaganfall waren uns noch 16 Jahre des Zusammenseins geschenkt.
Sie
lebte, weil sie liebte.
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